Aufschub oder Aufbruch? Chancen und Risiken der Gesetzesnovelle zur Berufsunfähigkeitsfeststellung
Das Gute vorweg: Durch die Gesetzesänderung gewinnen Menschen mit Behinderung Zeit – Zeit, um am ersten Arbeitsmarkt anzukommen. Bislang war es gängige Praxis, dass junge Menschen mit Behinderung mit 18 Jahren – oft direkt nach dem Schulabschluss – vom AMS zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gezwungen wurden. Konkret wurde eine ärztliche Untersuchung durchgeführt, um zu prüfen, ob die Person mit Behinderung 50 % der Arbeitsleistung einer Person ohne Behinderung mit derselben Ausbildung erbringen kann. Kam der Arzt oder die Ärztin zu dem Schluss, dass diese 50 % nicht erreicht werden können, wurde die Person als arbeitsunfähig eingestuft. Für die Betroffenen bedeutete das: kein Zugang zum ersten Arbeitsmarkt, keine Sozialversicherung und meist das Verschwinden in der Werkstätte – ohne Lohn. Für immer.
Was bringt nun die Gesetzesänderung?
Diese Untersuchung kann weiterhin angeordnet werden – jetzt jedoch erst ab dem 25. Lebensjahr. Dadurch gewinnen junge Menschen mit Behinderung vor allem eines: Zeit. Zeit für Berufsorientierung, Zeit für die Weiterentwicklung von berufsrelevanten Fähigkeiten, Zeit zum Reifen und Zeit, um Unterstützungsangebote zu installieren und wirken zu lassen. Das Ziel ist klar: Im Idealfall finden motivierte junge Menschen einen Platz am sogenannten ersten Arbeitsmarkt – mit Sozialversicherung, Lohn und Pensionsvorsorge.
Soweit die Theorie. Und die Praxis?
Die grundsätzlich positiven Absichten dieser Gesetzesnovelle haben leider einige Schwachstellen. Einerseits wurde nicht eindeutig geklärt, ob der Bezug der (erhöhten) Familienbeihilfe – für viele Familien mit Kindern mit Behinderungen ein wichtiger Teil des Einkommens – nach dem 21. Lebensjahr weiterhin möglich sein wird.
Andererseits sind die gewonnenen Jahre nur dann von Wert, wenn in dieser Zeit echte Berufsorientierung und Qualifizierung stattfinden. Zwar haben junge Erwachsene mit Behinderung durch die Novelle auch Anspruch auf Leistungen des AMS. Kritisch hinterfragen muss man jedoch, ob das AMS derzeit über passende Angebote und das nötige Know-how verfügt, um diese Zielgruppe angemessen zu unterstützen und zu fördern.
Auch in den sogenannten Berufsvorbereitungsprojekten muss sich aus unserer Sicht viel verändern. In Tirol herrscht in manchen Bezirken bereits jetzt Platzmangel und es gibt lange Wartelisten sowie kaum Auswahlmöglichkeiten. Entscheidend wird es sein, ein größeres und vor allem individualisierteres Angebot zu schaffen. Viele dieser Projekte waren bisher oft nur Übergangslösungen zur Überbrückung der Zeit bis zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Hier braucht es sicher eine grundlegende Veränderung in der Ausrichtung. Besonders wichtig ist die Frage, ob Menschen bis zum 25. Lebensjahr in diesen Projekten bleiben dürfen. Dazu müssten die Projekte enorm ausgebaut und auch an die Bedürfnisse von Jugendlichen mit hohem Unterstützungsbedarf angepasst werden.
Nicht nur Zeit, sondern auch Arbeit!
Ein Job für die Menschen – statt Menschen für einen Job! Ob die Gesetzesnovelle wirklich zielführend ist, steht und fällt letztlich mit Anpassungen am Arbeitsmarkt. Es bringt wenig, junge Erwachsene bis zum 25. Lebensjahr in Praktika und Qualifizierungsmaßnahmen unterzubringen, wenn es am Ende keine passenden Arbeitsplätze gibt. Entscheidend ist: Wer schafft wo Arbeitsplätze, die gezielt auf die Fähigkeiten und den Unterstützungsbedarf einer Person angepasst sind? Ein Blick in die Statistik zeigt nämlich: Selbst im öffentlichen Dienst ist die Quote von Arbeitnehmer:innen mit Behinderungen leider rückläufig.