Mit der Feststellung des aktuellen Städtebundchefs Anzengruber im orf.tirol, dass Schulassistenz manch ein Gemeindebudget ordentlich überfordere, und der dabei entwickelten „Idee“, dass eine 1:3-Betreuung – wie in anderen Bundesländern – auch möglich sein müsse, ist ordentlich etwas in Bewegung geraten. Ich hatte in den letzten Tagen einige recht interessante Gespräche zu diesem Thema…
Vorweg: Der Vergleich mit anderen Bundesländern ist einigermaßen abstrus. Zwar stimmt es, dass Wien einen Betreuungsschlüssel von 1:5 hat, es stimmt aber absolut nicht, dass dieser dort ausreicht. Seit Jahren hören wir bei verschiedenen Vernetzungen genau dazu verbitterte Eltern. Notstand als Zielbild? Ich hoffe nicht… Von einer guten Situation kann keine Rede sein.
Ähnlich der Vergleich mit der Steiermark: Der in der Steiermark etablierte 1:3-Schlüssel wurde als mangelhaft wahrgenommen, sodass 2023 eine Neuregelung erfolgte: Schulassistenz wurde dabei zur Gänze Teil des Systems Schule, das Leistungsangebot sogar auf Kinder mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes erweitert. Leider erfolgt hier gerade ein Rückbau durch die FPÖ-ÖVP-Landesregierung – VOR die Basisversorgung sichergestellt werden konnte. Von einer Vorbildfunktion kann hier höchstens im Sinne der bürokratischen Vereinfachung, keinesfalls aber im Sinne der Versorgungssicherheit gesprochen werden.
Zur angeblichen Überversorgung
Die Perspektive von der anderen Seite ist nämlich diese: Bereits der Ist-Zustand ist vielerorts mehr Mangelmanagement als bedarfsgerechte Versorgung. Wir treffen vielerorts auf verzweifelte Eltern, unterversorgte Kinder, ausgebrannte Schulen und Assistent:innen in prekären Arbeitsverhältnissen.
Natürlich liegt die Schuld hier keinesfalls „nur“ bei den Gemeinden. Um die Sache etwas besser zu verstehen, lohnt sich ein kurzer geschichtlicher Exkurs: Die Schulassistenz wurde ins Leben gerufen, um die Ungleichbehandlung von Kindern mit Behinderungen in Wohnortschulen bzw. im integrativen Setting gegenüber den Sonderschulen (kleinere Klassen, mehr Personal …) zu verringern. Gekommen ist es dann bekanntlich anders – und auch heute kennen wir Sonderschulklassen, in denen fünf Assistent:innen arbeiten…
So oder so: Mit dem immer eklatanter werdenden Mangel an für „Sonder“-pädagogik gewidmeten Stunden (dem vom Bund verordneten Deckel von 2,7 % der Fördermittel für den Bereich Sonder- und Inklusionspädagogik geschuldet – und im nächsten Jahr wohl noch verschärft durch die Streichung von 20 Planstellen aus dem Zusatzkontingent des Landes, von der Bildungslandesrätin übrigens als Jubelmeldung verbreitet…), dem zunehmenden Aushungern des Teamteachings, wurde die Schulassistenz vielerorts zu einem Pflaster auf klaffende Wunden.
Für viele Eltern ist die Schulassistenz die einzige Leistung im Feld Schule, die sie überhaupt noch wahrnehmen. Zwar lässt die Bildungsdirektion keine Gelegenheit aus, zu betonen, wie großartig das Unterstützungssystem in der Schule arbeitet, gleichzeitig erfahren Eltern aber weder, wie viele Stunden aus dem Förderkontingent im Klassenverbund sind, noch sind Beratungslehrer:innen bekannt oder greifbar – oft werden sie von der Schule eher bekämpft als eingeladen und mit Bürokratie zugedeckelt. Schulpsycholog:innen fehlen, Sozialarbeiter:innen fehlen – und und und…
Was sich ergibt, sind zwei nicht kompatible Sichtweisen: Einerseits die Gemeinden, die nicht mehr können und den subjektiven Eindruck gewinnen, dass sie eh überversorgen. Andererseits Familien, die sich fragen, wo genau die angebliche Förderung denn bleibt. Sie sehen, dass das System Shule nicht funktioniert - Wie, Wo, Warum und mit welcher Finanzierungslücke das zustande kam - sehen sie nicht. Fein raus aus der Sache: die Abteilung Bildung und die Bildungsdirektion. An dieser Stelle eine höfliche Erinnerung an den Integrationsbericht, der dem Landtag vorzulegen ist. Vielleicht lässt sich aus den Zahlen dort ablesen, wer die Unterversorgung verursacht hat…
Wer ist nun eigentlich zuständig?
Übrigens haben wir noch lange nicht alle Player im System Schulassistenz durch… Was der Städtebund in seiner Aussendung nämlich nicht erwähnt: Nein, die Gemeinden finanzieren die Assistenz keineswegs alleine. Im Gegenteil. Im sogenannten Sozialpaktum ist der Prozentschlüssel zur Aufteilung der Kosten klar geregelt: 65 % der anfallenden Kosten übernimmt die Abteilung Soziales, 35 % bleiben bei der Gemeinde. Ein Prozentschlüssel, der bei der Ausverhandlung 2023 noch als besonders gemeindefreundlich gefeiert wurde.
Was hat sich also seither verändert, dass Gemeinden plötzlich so überfordert sind?
Da bleiben uns nur Mutmaßungen:
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Spekulation 1: Mit dem Zusammenbruch der GemNova wurden die tatsächlichen Kosten für die Gemeinden sichtbar.
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Spekulation 2: Früher wurden viele Schulassistent:innen nicht kollektivvertragskonform bezahlt. In vielen Gemeinden kann auch die aktuelle Aussendung zum Knieschuss werden… Wie ich das meine? Ich kenne mehr als eine Gemeinde, in der Assistent:innen einwilligen, im Sommer für Gemeindedienste im Wochenstundenausmaß zur Verfügung zu stehen. Hier werden dann der Hort oder Reinigungsarbeiten durch Assistent:innen erledigt – selbstverständlich mit finanzieller Unterstützung der Abteilung Soziales, selbstverständlich nicht kollektivvertragskonform: Hier ist nämlich klar geregelt, dass Stunden während der Schulzeit voraus-einarbeitbar sind.
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Spekulation 3: Um den Mangel an pädagogischen Stunden abzufedern, beantragen Schulleiter:innen mehr Stunden – nicht böswillig, sondern in Kenntnis der Situation an der eigenen Schule. Damit die Schulleiter:innen nicht allzu sehr verzweifeln, bewilligen Diversitätsmanager:innen diese Stunden nach der Prüfung auch eher – zumal sie vielerorts ja keine Lehrer:innenstunden mehr anzubieten haben.
Ein bürokratisches Monster
Moment… jetzt wird es kompliziert… und wie!
Ja, man merkt beim Lesen dieser Zeilen so langsam, wie kompliziert das Verfahren zu Schulassistenz in Tirol ist. Der Verfahrensweg laut Bildungsdirektion (wir zählen leise mit, wie viele Stellen mit der Schulassistenz beschäftigt werden):
"VORGEHENSWEISE ZUR BEANTRAGUNG VON SCHULASSISTENZ
Die Schul- bzw. Clusterleitung (1) bespricht im Vorfeld mit dem Schulerhalter (2) die Notwendigkeit einer Schulassistenz. Eine Beratung durch die Diversitätsmanagerin/den Diversitätsmanager (DM) (3) des Fachbereichs Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik (FIDS) ist möglich.
Die Schulleiterin/der Schulleiter fordert von den Erziehungsberechtigten (4) den Nachweis über den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe = Finanzministerium + BSA … macht also 5,6) bzw. des Pflegegeldes ein.
Die Schul- bzw. Clusterleitung erstellt ein Konzept zum Einsatz von Schulassistenz mit oder ohne schulischer Tagesbetreuung.
Die Schul- bzw. Clusterleitung übermittelt das Schreiben mit der Bitte um Stellungnahme, den Nachweis über den Bezug der erhöhten Familienbeihilfe bzw. des Pflegegeldes sowie das Konzept an die Bildungsdirektion Tirol (Abteilung Recht … macht also 7 ).
Die DM des Fachbereichs FIDS übermittelt die Stellungnahme zum Einsatz von Schulassistenz nach Prüfung an die Schulleiter:in.
Die Schul- bzw. Clusterleitung übermittelt die erforderlichen Unterlagen an den Schulerhalter.
Der Schulerhalter bringt den Antrag auf Zuschuss für Lohnkosten der Schulassistenz beim Land Tirol, Abteilung Soziales, ein (… und die Nummer 8 )."
Ist das ein bisschen zynisch? Nein. Nicht nur ein bisschen… Acht Beteiligte, zig Seiten an Anträgen. Jeder ist zuständig. Und… keiner.
Abgesehen davon verbergen sich in diesem komplexen Schlaufen viele Fallstricke. Zum Beispiel: Da die Erstbeantragung der erhöhten Familienbeihilfe derzeit extrem lange dauert (wir hatten schon Fälle, in denen wir ein Dreivierteljahr auf einen Bescheid warteten), können die Schulleiter:innen den Antrag auf Schulassistenz nicht zeitgerecht einbringen. Grundsätzlich kein Problem, da Gemeinden ja in die Vorfinanzierung gehen konnten und bisher nach Abwicklung des Antrags rückfordern durften. Im TTHG ist nun jedoch eine maximale Abrechnung bis zum Monatsersten des Eingangsstempels des Antrags bei der Abteilung Inklusion und Kinder- und Jugendhilfe möglich. Viele Gemeinden tappten in diese Falle und werden nie wieder in Vorfinanzierung gehen. Viele Kinder bleiben lange ohne Assistenz.
Und wer duckt sich fein weg? Aha… die Bildungsdirektion. Die es bis heute nicht geschafft hat, mit einer Minimalanpassung im Verfahrensweg hier für Ordnung zu sorgen.
Missverständnisse und Fakten
Der Quirrgelhaufen führt in vielen Gemeinden zu einer klaren Forderung: Der, der bewilligt, soll auch zahlen. Wobei? Wer bewilligt denn jetzt eigentlich? Gute Frage. Keine klare Antwort…
Der Quirrgelhaufen führt auch zu vielen Missverständnissen. Heute hat ein eigentlich sehr vernünftiger Gemeindemitarbeiter in einem sehr netten Gespräch gemeint, dass es ja nicht sein könne, dass man auf zig Leistungen aus dem TTHG Anspruch habe, nur weil man einmal erhöhte Familienbeihilfe bezieht.
Hier eine kleine Aufklärung: Erhöhte Familienbeihilfe bekommt man nicht „einfach so“. Voraussetzung ist ein Grad der Behinderung über 50 %. Es ist also bei Gott nicht so, dass wir hier von zigtausenden Kindern reden… Von wie vielen reden wir eigentlich? Vielleicht weiß es der Integrationsbericht…
Auch oft falsch verstanden: Erhöhter Förderbedarf oder SPF haben mit Anspruch auf Assistenz nichts, genau gar nichts zu tun. In Tirol ist die Assistenz eine Einzelleistung, geknüpft einzig und allein an das Vorliegen einer Behinderung. Für die Festlegung des Ausmaßes des Anspruchs sind eben die beantragende Schulleitung, die kontrollierende DM, die Rechtsabteilung und am Schluss die Abteilung Inklusion zuständig. Unser Eindruck: Im Übermaß wird da bei Gott nichts bewilligt. Eher im Gegenteil.
Praktische Fragen
Ich frage mich ganz praktisch: Wie genau soll eine einzige Assistenzkraft drei Kinder mit Behinderungen gleichzeitig begleiten – beim Lernen, beim Toilettengang, beim Schulweg, beim sozialen Miteinander?
Wie stellt man sich das konkret vor? Werden Kinder mit Behinderungen aus ihren Stammklassen herausgenommen, um sie zu gruppieren? Oder wird die Assistenzkraft tageweise zwischen drei Klassen aufgeteilt? In kleinen Gemeinden, in denen es vielleicht nur ein einziges anspruchsberechtigtes Kind pro Jahrgang gibt – wie soll das dort funktionieren?
Geht mein Sohn am Montag und Dienstag aufs WC und der Bursch mit Trisomie in der Volksschule am Mittwoch und Donnerstag?
Die Idee einer „Poollösung“ klingt auf dem Papier effizient, ist in der schulischen Realität aber oft schlicht nicht umsetzbar.
Fazit
Soll also alles bleiben, wie es ist?
Nein! Bloß nicht!
Gebt die Assistenz und die Verantwortung dafür endlich dorthin, wo sie hingehört: In die Abteilung Bildung.
Warum? Die Bedarfssituation ist dort bekannt. Dort kann nachgeschaut werden, ob im Einzelfall eine Assistenz und gebündelte Ressourcen wirklich sinnvoller sind. Dort kann man auch entsprechende organisatorische Rahmenbedingungen schaffen, um für Kinder sicherzustellen, dass Teilhabe bestmöglich möglich ist. Hier kennt man die Kinder, Klassen, Schultypen und ihre spezifischen Anforderungen. Dort sitzt das Know-how für systematische Fortbildung und Teambuilding.
Kurzum: Duckt euch nicht weg!
Danke.