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Zwei wissenschaftliche Studien zu SPF-Vergabe und Wohnen

Liebe Unterstützer:innen!

Diesmal ein "wissenschaftlicher" Newsletter. Zwei aktuelle Studien, an deren Erarbeitung zwei unserer Vorstandsmitglieder intensiv beteiligt bzw. hauptverantwortlich waren, sind erschienen. Es ist uns ein Anliegen, Ihnen die wesentlichen Inhalte dieser Studien näherzubringen. Nicht, weil wir glauben, dass es hier bahnbrechende Neuigkeiten gibt, sondern weil wir fordern, dass Verantwortliche auf diese Fakten reagieren müssen!

Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich

Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung hat sich knapp ein halbes Jahr Zeit gelassen, um diese Studie zu veröffentlichen. Auf 329 Seiten  wird die SPF-Vergabepraxis im Wesentlichen als unwissenschaftlich, veraltet und unmenschlich beschrieben und ganz klar festgehalten, dass die derzeit vom Bund bereitgestellten 2,7% an Förderkontingent nie und nimmer den Bedarf decken. Hier sind die zentralen Punkte:

  • Das Behinderungsverständnis bei der SPF-Zuschreibung konzentriert sich stark auf Defizite des Individuums und vernachlässigt wichtige Umweltfaktoren, die eine Behinderung beeinflussen. Bezeichnenderweise ist das Wort „nicht" (also kann nicht, genügt nicht...) das mit Abstand häufigste in SPF-Gutachten.
  • Die Definition des Sonderpädagogischen Förderbedarfs ist unzureichend. Dem entsprechend existieren große Unterschiede in der Vergabepraxis zwischen den Bundesländern. Die SPF-Quote schwankt zwischen 2,3% in Tirol und 6,7% in Salzburg. Für ganz Österreich ergibt sich derzeit eine Quote von 4,5-4,9%. Gleichzeitig stellt der Bund aber nur Mittel im Ausmaß von 2,7% zur Verfügung. Hinsichtlich der Ressourcenvergabe herrscht Intransparenz.
  • Nach wie vor geht es in der Zuschreibung des SPFs in erster Linie um die Frage, warum ein Kind dem Unterricht nicht folgen kann. Die Frage, wie der Unterricht gestaltet werden kann, um allen Schülern gerecht zu werden, bleibt außen vor.
  • Beratungslehrer:innen und Diversitätsmanager:innen werden mit so viel Bürokratie überlastet, dass sie ihre eigentlichen Aufgaben – das Begleiten und Unterstützen von Schüler:innen und Schulen – nicht mehr leisten können.
  • Eine verbesserte Datenlage ist erforderlich, um eine genauere Einsicht in die Situation der Schüler zu erhalten. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen für die Weiterentwicklung des Förderwesens ernst genommen werden

Welche zentralen Forderungen ergeben sich für uns daraus: Aus unserer Sicht klar: Weg von auf Schwächen blickenden Zuschreibungen hin zu einem reichlich ausgestatteten, vielfältigen Topf an Förderressourcen, der bedarfsgerecht abgeholt werden kann. Die Anpassung des Gesamtförderkontingents auf mindestens 5% seitens des Bundes ist dabei zwingend und zeitnah vorzunehmen. Schulen müssen geöffnet werden für multiprofessionelle Teams und die Mitgestaltung durch Schüler:innen und Eltern gezielt ausgebaut werden. Lehrpläne sind dahingehend umzugestalten, dass alle Schüler:innen die Möglichkeit haben, diesen zu erfüllen. Es muss ermöglicht werden, Klassengrößen zu schaffen, die allen Kindern Teilhabe und Lernen ermöglichen.

Tirol ist übrigens traditionell eines jener Bundesländer mit den niedrigsten SPF-Quoten. Das ist gut und schlecht gleichzeitig: Gut, weil versucht wird, möglichst keinem Kind einen Stempel aufzudrücken, schlecht, weil durch die Praxis natürlich auch viele Kinder nicht zu der zusätzlichen Förderung kommen, die ihnen eigentlich zustehen würde. Tirol geht hier nach dem Prinzip vor: 2,7% Mittel vom Bund, also maximal 2,7% SPF. Mehr als 2,7 Förderung gibt es nämlich unabhängig von der Zuschreibung eh nicht. Realer Bedarf: egal!

Kleines "Schmankerl" am Rande: Falls Sie sich Fragen, wie das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung bisher darauf reagiert hat. Das ging mit dieser Pressemeldung heraus "BMBWF: Wahlfreiheit bei sonderpädagogischem Förderbedarf ist essenziell! Studien zeigen hohe Zufriedenheit der Eltern mit dem Verfahren zur Vergabe des sonderpädagogischen Förderbedarfs." Das Traurige daran: In der Studie kommt das Wort „Wahlfreiheit" kein einziges Mal vor. Ganz im Gegenteil: 40% der Eltern gaben an, dass sie keine freie Wahl der Schule hatten.

Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit Behinderungen in Tirol:

Petra Flieger hat für den Tiroler Monitoringausschuss eine Studie zur Wohnsituation von Menschen mit und ohne Behinderungen in Tirol durchgeführt. Wenig überraschend zeigte sich dabei klar, dass Menschen mit Behinderungen es wesentlich schwerer haben, selbstbestimmt zu wohnen.

  • Im Gegensatz zu Menschen ohne Behinderungen, die oft die Möglichkeit haben, mit Familienmitgliedern zu leben und dies eigenständig entscheiden können, werden Menschen mit Behinderungen gezwungen, mit anderen Personen mit Behinderungen zusammenzuleben, ohne die Auswahl ihrer Mitbewohner:innen beeinflussen zu können.
  • Diese Situation begrenzt ihre Möglichkeiten, ihr persönliches und partnerschaftliches, sowie sexuelles Leben frei zu gestalten
  • Die Verknüpfung von Unterstützungsleistungen an den Wohnort schafft hohe Abhängigkeit und erhöht den Druck zur Anpassung für Menschen mit Behinderungen.
  • Die frühzeitige Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen ist leider weiterhin häufig.


Konklusion: Dringender Handlungsbedarf:
Es bedarf der Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden Strategie für den systematischen Abbau aller Formen von Barrieren, einschließlich aller kommunikativen, sozialen und finanziellen Barrieren. Besonders die Verschlechterung der Bauvorschriften zum barrierefreien Wohnbau wird hier kritisiert. Es muss ein Ausbau familienentlastender Dienste erfolgen, um Kindern das Aufwachsen in ihren Familien zu ermöglichen. Die Deinstitutionalisierung ist notwendig, wobei eine systematische Umverteilung von Ressourcen in Richtung gemeindenaher Unterstützungs-, Begleit- und Assistenzdienste erfolgen muss. Maßnahmen zum Aufbau und zur Stärkung von sozialen Netzwerken sind erforderlich, um Vereinsamung zu bekämpfen.

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