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Hinsehen Handeln Schützen - Vortrag von Frau Prof. Dr. Julia Gebrande

Ich möchte Sie mitnehmen in ein aktuelles Thema, das lange Zeit tabuisiert war und das auch heute noch viel zu selten in den Blick gerät: Die Sexualisierte Gewalt an Menschen mit Behinderungen. Einsteigen möchte ich mit ein paar Fallvignetten, dann werde ich klären, was sexualisierte Gewalt ist und warum Menschen mit Behinderungen besonders gefährdet sind. Abschließend werde ich ein Modellprojekt aus Deutschland (BeSt – Beraten und Stärken für die Prävention von sexualisierter Gewalt an Jungen und Mädchen mit Behinderungen in Institutionen) vorstellen.

Grundlage vieler Überlegungen und damit auch Quelle für den heutigen Vortrag ist u.a. mein Buch: Kinder mit sexualisierter Gewalterfahrung unterstützen: Bedarfsanalyse von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen sowie das darauf aufbauende Buch von Anna Wittmann, das ein praktisches Curriculum für die Ausbildung von pädagogischen Fachkräften vorstellt . Und empfehlen möchte ich Ihnen auch die Homepage „Kein Raum für Missbrauch" , hier finden Sie viele Informationen und Materialien des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), der von der Bundesregierung in Deutschland nach dem sogenannten „Missbrauchsskandal" 2010 eingesetzt wurde.

Hier nun die Fallvignetten:
• Der zwanzig Jahre ältere Betreuer auf einer Ferienfreizeit beginnt eine sexuelle Affäre mit einem 13jährigen Mädchen mit einer Lernbehinderung.
• Die Physiotherapeutin fotografiert ihren nackten Patienten.
• Ein Pfleger hebt ein Mädchen mit körperlicher Behinderung aus dem Rollstuhl und schaut ihr dabei unter den Rock.
• Der Assistent badet mit der körperbehinderten Frau, die er betreut und seift sie am ganzen Körper ein.
• Der zwölfjährige Peter soll sich vor seinem Arzt ganz nackig ausziehen, obwohl es bei der Untersuchung um die Fuß- und Kniegelenke geht.

Sie sehen ganz unterschiedliche Fallvignetten, die Sie zum Nachdenken animieren sollen. Mir wäre wichtig, dass sie kurz überlegen: Was würden Sie als sexualisierte Gewalt definieren? Was würden Sie sagen, ist Alltagsgeschehen? Was ist problematisch? Was ist strafrechtlich verwerflich? Was ist unproblematisch?
Es ist oft das Problem, das von außen nicht klar erkennbar ist: Das ist sexualisierte Gewalt oder das ist keine sexualisierte Gewalt. Wenn ein Assistent mit einer betreuten Frau badet, kann es sich dabei um eine ganz unverfängliche, eindeutig harmlose „normale" Situation handeln. Natürlich gehört Körperpflege mit zur Betreuung. Wie kann man eine solche Situation aber unterscheiden von einer Situation, in der einer Betroffenen Sexualisierte Gewalt angetan wird? Angela May hat bereits 1997 für den sexuellen Missbrauch an Kindern Fragen bzw. Kriterien entwickelt, um solche Situationen besser beurteilen zu können :

• Was ist die Absicht der Handlung?
• Wem nützt die Handlung, wer zieht Gewinn daraus?
• Von wem geht die Handlung aus?
• Kann das Mädchen, der Junge oder die erwachsene Person mit Behinderung ohne Mühe ablehnen, NEIN sagen?
• Welche Gefühle habe ich demgegenüber?

Nehmen Sie die letzte Fallvignette: Niemand muss sich nackt ausziehen, wenn die Fuß- und Kniegelenke untersucht werden. Entscheidend ist immer die Absicht hinter einer Handlung – hier ist es beispielsweise der Arzt, der versucht, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Oder das Beispiel mit dem Mädchen auf dem Ferienlager: Es kann sein, dass das 13-jährige Mädchen so verliebt in ihren Betreuer ist, dass die Handlungen von ihr ausgehen, doch es ist immer die Verantwortung von Erwachsenen oder Professionellen, eine Grenze zwischen Nähe und Distanz zu ziehen und sich keinesfalls auf sexuelle Handlungen einzulassen. Jeder Mensch spürt genau den Zeitpunkt, wenn aus zärtlichen Gefühlen sexuelle Gefühle werden, wenn eine Erregung auftritt. Es ist also für die beteiligten Personen durchaus spürbar, wann die Situation kippt. Auch wenn Sie eine Situation von außen beobachten, dann kann es sein, dass Sie spüren, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Aber die Beurteilung einer Situation von außen ist natürlich immer delikat und weist Interpretationsspielraum auf (daher ist die Verurteilung von Täterinnen und Tätern auch oft so schwer). In solchen unklaren Situationen können die genannten Fragen aber Anhalts-Punkte sein, die Sie dazu veranlassen, genauer hinzuschauen.

Sexualisierte Gewalt kann viele unterschiedliche Formen annehmen:
• unerwünschtes Berühren, Betätscheln, Befingern
• anzügliche und ehrverletzende Bemerkungen
• obszöne Witze und Sprüche, die demütigend wirken
• aufdringliche sexuelle Angebote
• das Aufhängen und Herumzeigen von Fotos oder Zeichnungen mit wenig oder gar nicht bekleideten Personen oder sexuellem Inhalt
• Aufforderungen zu sexuellen Gefälligkeiten oder Handlungen
• das Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse

Es handelt sich bei sexuellen Übergriffen in erster Linie um eine Form der Gewalt. Sexualisierte Gewalt ist der Oberbegriff, andere Begriffe sind Missbrauch oder Übergriff. Im Vordergrund steht aber nicht das sexuelle Geschehen, sondern stehen die Gewalt und die Macht auf der einen Seite und die Ohnmacht, die Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein auf der anderen Seite. „Der Machtüberhang wird zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse am Unterlegenen benutzt, genauer: Macht wird sexualisiert. (...) Das Opfer wird zum Objekt sowohl eines Bedürfnisses sexueller Befriedigung/Erregung als auch nach Befriedigung eines Machtwunsches." Bei erwachsenen Menschen, kann man in der Regel davon ausgehen, dass sexuelle Handlungen in Ordnung sind, wenn beide dazu zustimmen. Sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern dagegen sind immer tabu.
Überall dort, wo ungleiche Machtverhältnisse vorhanden sind, ist das Risiko Sexualisierter Gewalt erhöht. In unseren Gesellschaften gibt es aber nach wie vor ungleiche Machtverhältnisse: zwischen Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen, zwischen Mädchen und Buben, zwischen Männern und Frauen. Das Zentrale ist die strukturelle Hierarchie. Im Privaten, in der Familie oder in Heimen, Kirchen, Internaten usw. existieren diese ungleichen Machtverhältnisse, die ausgenutzt werden können. Wenn Menschen Macht über andere innehaben, bietet sich ein Boden für deren Ausnutzung zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Je größer die Machtungleichheit ist, desto größer ist dabei die Gefahr sexualisierter Übergriffe. Deswegen spricht man von sexualisierter Gewalt: Die Macht wird sexualisiert ausgelebt.
Von sexuellem Missbrauch wird immer dann gesprochen, wenn ein Betreuungs- oder Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wird. Es ist fast immer ein Prozess - eine systematisch vorbereitete Tat. Nehmen Sie die Fallvignette, in der ein Pfleger einem körperbehinderten Mädchen beim Heben unter den Rock schaut: Der Rock rutscht hoch, das kann passieren, und der Pfleger kann damit verantwortlich umgehen. Doch wenn er sie jedes Mal so hochhebt, dass der Rock hochrutscht, dann ist das Sexueller Missbrauch und ist vom Pfleger strategisch geplant. Dirk Bange (1992) definiert dies für Kinder so : "Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuell gefärbte Handlung, die an oder vor einem Kind vorgenommen wird oder die das Kind an dem Täter vornehmen muss. Dies geschieht entweder gegen den Willen des Kindes oder das Kind kann aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen. Der Täter nutzt seine Macht und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen."

Diese Definition lässt sich meines Erachtens nach gut auf Menschen mit Behinderungen übertragen. Häufig folgen die Übergriffe nämlich einem ähnlichen Ablaufschema: Der erste Schritt ist meist, dass „einfache Opfer" ausgesucht werden. Es wird geschaut: Wen könnte ich denn benutzen, ohne dass es auffällt, wo - an welchen Orten - wäre es leicht möglich? Dann wird Zeit investiert, um Kontakt aufzubauen. Betroffene von sexualisierter Gewalt gehören oft zu besonders vulnerablen, besonders verletzlichen Gruppen. Das machen sich die Täter und Täterinnen zu nutze. Häufig findet dann eine Phase statt, in der normale körperliche Berührungen ausgeführt und dabei mehr und mehr die Grenzen überschritten werden, als Probe oder Testritual sozusagen. Das kann im Sport oder beim Spielen sein. Es kann auch die Sprache immer sexualisierter werden – beispielsweise beim Chatten. Viele Fremdtäter nutzen heute das Internet, den großen virtuellen Raum, in dem es leicht ist, Kontakt zu Kindern oder weiteren potentiellen „Opfern" aufzubauen. Hier haben wir wieder den Zusammenhang zu Menschen mit Behinderungen, denn das Internet ist eine große Bereicherung, um ohne Hilfe Kommunikation zu leben. Gleichzeitig birgt das Internet aber auch eine Gefahr: Es verschwimmen Grenzen, man ist sofort auf Du-und-Du-Ebene. Altersunterschiede werden aufgehoben. Die Kontaktaufnahme gestaltet sich daher für alle einfacher – im Positiven wie im Negativen...

Dann kommt es häufig zum sexuellen Übergriff. Was charakteristisch ist: Danach wird nicht mehr so stark um die Person geworben, vor dem sexualisierten Übergriff schon. Das Werben dient dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Nach dem Übergriff geht es vor allem darum, das Ganze zu vertuschen, dafür zu sorgen, dass es nicht an die Öffentlichkeit kommt. Es gibt subtile Formen (z.B. „Das ist unser Geheimnis.") oder auch massiven Druck bis zur Bedrohung oder Gewalt.
Was die Betroffenen dazu führt, nicht darüber zur sprechen, würde hier zu weit führen, aber ich empfehle Ihnen eine Studie mit dem Titel „Sprechen und Schweigen nach sexualisierter Gewalt", die erörtert hat: Was verhindert das Sprechen nach Gewalt?

Ich möchte jetzt zu den Menschen mit Behinderungen kommen. Aus einer repräsentativen Studie aus Deutschland wissen wir, dass jede zweite bis vierte Frau mit Behinderungen sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend erlebt hat, auch durch andere Kinder und Jugendliche. Sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend durch Erwachsene haben 20–34 % der Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Kindheit und Jugend erlebt. Sie waren damit etwa zwei- bis dreimal häufiger davon betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (10 %). Erzwungene sexuelle Handlungen im Erwachsenenleben haben 21–43 % der Frauen mit Behinderungen angegeben. Sie waren damit auch im Erwachsenenleben etwa zwei- bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (13 %). Besonders stark betroffen waren gehörlose Frauen, gefolgt von blinden Frauen, psychisch erkrankten Frauen und körper-/mehrfachbehinderten Frauen.

Nun zu den Männern: Es gibt aktuell keine Studie, die für Jungs und Männer eine vergleichbare Aussage trifft. Es ist für Männer aber auch ungleich schwieriger, über Missbrauchserfahrungen zu berichten. Sie haben den Wunsch stark zu sein und es ist für sie daher deutlich schwieriger zuzugeben, „Opfer" geworden zu sein. Es findet in diesem Bereich auch eine große Bagatellisierung (z.B. „Junge wurde von reifer Frau in die Liebe eingeführt") statt.

Ich bin allerdings davon überzeugt, dass sowohl Buben, als auch Mädchen mit Behinderungen deutlich häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind als Gleichaltrige ohne Behinderungen – unabhängig vom (zugeschriebenen) Geschlecht. Ich möchte Ihnen mögliche Gründe dafür nennen:
• Sie sind oft auf Hilfestellung und Pflege angewiesen; das sind Situationen, die von Tätern und Täterinnen für sexuelle Übergriffe genutzt werden können. Pflege wird oft im „Verborgenen" – hinter verschlossenen Türen ausgeführt, hier ist es leicht sich zu tarnen. Auch Frauen können Täterinnen sein (was häufig unterschätzt wird).
• Sie sind abhängig vom Wohlwollen der Bezugspersonen, müssen ihnen gegenüber dankbar und loyal sein, nicht nur, aber auch in Institutionen. Würden die Mädchen oder Buben Vorwürfe machen, hätte das für sie Nachteile.
• Sie machen die alltägliche Erfahrung, dass andere den Körper versorgen (müssen). Die Folge kann sein, dass sie kein ausgewogenes Körpergefühl entwickeln können und dass sie nicht wissen: Mein Körper gehört mir und ich kann selbst über ihn bestimmen!
• Sie haben oft zu wenig Wissen über ihren Körper und über Sexualität. Das geht einher mit einem fehlenden positiven Zugang zum eigenen Körper, mit Tabuisierung von Sexualität und geringem Selbstwertgefühl. Oft wird Menschen mit Behinderungen gar keine Sexualität zugestanden. Übergriffe werden dadurch oft verharmlost oder verschwiegen.
• Sie haben wie alle Menschen eine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Sexualität.


Vor diesem Hintergrund können Menschen mit Behinderungen leicht ausgenützt werden. Doch es gibt noch viele weitere Gründe, wie z.B.:

• Abwehr und Widerstand sind manchmal nicht deutlich genug.
• Die Glaubwürdigkeit von Menschen mit Behinderungen wird eher angezweifelt, z.B. durch das gesellschaftliche Vorurteil, dass sich niemand an diesen Mädchen und Jungen „vergreifen" würde, weil sie von den gängigen Schönheitsidealen abweichen würden und deshalb weniger attraktiv seien. Dies ist ein perfekter Deckmantel für Täter und Täterinnen.
• Es gibt nur wenige barrierefreie, leicht zugängliche Hilfeangebote und Beschwerdemanagement. Hinzu kommen Scham & Schuldgefühle. Mit wem also darüber reden?
Diese Aspekte, die das Risiko für sexuellen Missbrauch erhöhen, überdauern in der Regel die Kindheit und Jugend. Somit bleibt auch im Erwachsenenalter das erhöhte Risiko bestehen, sexualisierte Gewalt zu erleiden.

Was können wir also tun, um Mädchen, Jungen und Erwachsene mit Behinderungen zu schützen?   Prävention:
Die Hauptaufgabe der Primärprävention ist es, zu verhindern, dass es überhaupt zu Übergriffen kommt. Ich werde Ihnen später ein Projekt vorstellen, bei dem es sowohl um die Opfer- als auch die Täter-Prävention geht.
Prävention ist auch das, was wir heute Abend hier machen. Häufig ist Primärprävention auch Sekundärprävention, d.h. sie hilft, Gewalt frühzeitig zu erkennen, sie aufzudecken und sie dadurch zu beenden. Oft ist schon viel erreicht, wenn ich eine veränderte Haltung einnehme. Oft habe ich gehört: „Ich habe 30 Jahre in der Schule gearbeitet und nie etwas gemerkt. Jetzt (nachdem ich sensibilisiert bin) sehe ich das. Jetzt kommen Mädchen und Buben zu mir und erzählen." Es genügt zu wissen: Sexualisierte Gewalt kommt vor. Ich weiß, es gibt sexualisierte Gewalt. Vernetzung ist ganz wichtig. Wenden Sie sich an spezialisierte Beratungsstellen. Ein Mensch alleine ist da überfordert, wir brauchen gute Netzwerke.
Tertiärprävention bedeutet schließlich, Langzeitfolgen nach Gewalterfahrungen zu verhindern, damit Betroffene nicht reviktimisiert werden, also immer wieder zum Opfer werden. Es ist fatal: Menschen, die bereits Gewalt erlebt haben, sind wieder vulnerabler, was sie wiederum leichter zu Betroffenen macht – ein Teufelskreis, der Betroffene in eine Abwärtsspirale bringen kann.

Wichtig ist es zudem, auf unterschiedlichen Ebenen anzusetzen: die Ebene der Betroffenen, die Ebene der Fachkräfte, die Ebene der Institutionen sowie die gesellschaftliche Ebene. Alle Ebenen stehen miteinander in Wechselwirkung .
Ein wichtiger Aspekt für Institutionen ist es, sichere Räume zu schaffen. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind in Deutschland in den vergangenen Jahren viele Ideen für gute Präventions- und Schutzkonzepte entwickelt worden, die meines Erachtens gut auf Einrichtungen der Behindertenhilfe übertragen werden können:

• Mädchen und Jungen selbst müssen gestärkt werden
• Eltern müssen sensibilisiert und informiert werden
• Fachkräfte müssen ebenso sensibilisiert und fortgebildet werden, aber auch alles weitere Personal wie z.B. Putzpersonal, Hausmeister, etc.

An dieser Stelle kann ich das Buch von Ursula Enders (2012): Grenzen achten: Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis (KiWi Verlag) empfehlen.

Ich komme nun zum Modellprojekt BeSt – Beraten und Stärken. Zum Schutz von Mädchen und Jungem mit Behinderungen vor sexualisierter Gewalt in Institutionen . Es wird vom Bundesministerium in Deutschland gefördert. Die Projektziele sind:
• Die Verbesserung des Schutzes von Mädchen und Jungen mit Behinderung vor sexualisierter Gewalt in Institutionen.
• Die Entwicklung von Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Kinderschutzkonzepten in (teil-)stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie inklusiven/integrativen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
Die Kooperationspartner sind 10 Fachberatungsstellen in mehreren Bundesländern. Sie wurden ausgestattet mit je einer halben Stelle, die die beteiligten Institutionen berät, wie die Einrichtung zu einem sicheren Ort werden kann. Diese 20 Fachberatungsstellen-Mitarbeiter_innen gehen in 80 Einrichtungen der Behindertenhilfe und werden dort vor Ort aktiv.

Folgende drei Säulen sind Inhalt des Projektes:
1. Implementierung von Kinderschutzstrukturen und Beschwerdemanagement in allen Einrichtungen (15 Tage Organisationsberatung/Fortbildung pro Einrichtung)
2. Die Sensibilisierung und Schulung aller Mitarbeiter_innen und der Eltern (1 Tag).
3. Die Arbeit mit den Kindern selbst (6 Tage Präventionsprogramm).
Beim Präventionsprogramm für die Kinder geht es darum, Mädchen und Jungen in ihrer Gesamtpersönlichkeit zu stärken, altersangemessen zu informieren und ihr Körperbewusstsein zu fördern. Hier in aller Kürze die Bausteine des Präventionsprogramms, bei dem viel mit Bildern gearbeitet wird:
1. Basis: Gefühle, Gefühle wahrnehmen.
2. Körper: „Mein Körper gehört mir" .Ich kann Ihnen das an zwei Situationen verdeutlichen, die mit den Kindern besprochen werden: Wie fühlt es sich beispielsweise an, wenn man gemeinsam vor dem Fernseher sitzt und sich berührt wie hier auf dem Bild? Und wie fühlt es sich dagegen an, wenn man im Schwimmbad ist, weil man unglaublich gerne schwimmt und der Trainer einen am Popo anfasst?
3. Es gibt „schöne, komische und blöde Berührungen".
4. Information über sexuellen Missbrauch in Einfacher Sprache, auch dazu gibt es Kärtchen mit entsprechenden Situationen. Die Intention ist, dass Kinder und Jugendliche über sexualisierte Gewalt Bescheid wissen, dass sie wissen, dass das nicht okay ist, und dass sie sich Hilfe holen dürfen.
5. Geheimnisse: Es gibt gute und schlechte Geheimnisse, und schlechte darf ich weitererzählen. Es kann sein, dass eine Vertrauensperson nicht gut reagiert, dann darf ich weitergehen und es jemand anderem erzählen. Wir sagen nicht, schlechte Geheimnisse müssen, sondern dürfen weiter gesagt werden.
6. Wie kann ich Nein sagen und zeigen? Dafür gibt es ebenfalls Karten und Übungen. Es geht mehr um das: Darf ich Nein-sagen? Auch hier kommt die Opfer- und Täter-Prävention nahe zusammen: Ich höre auch auf das Nein-Sagen von anderen.
7. Hilfe holen: Wir wissen, Kinder müssen oft erzählen, bis einem geglaubt wird. Da wird es wirklich schwierig. Gerade für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Kommunikation-Schwierigkeiten, wenn ich mich nicht äußern kann.

Wir vermitteln im Präventionsprogramm auch: „Es ist nicht schlimm, wenn wir es nicht schaffen, Nein zu sagen. Du hast nie Schuld, Schuld hat immer der Erwachsene/die Erwachsene."
Das Programm muss immer begleitet sein von der Entwicklung von Kinderschutz-Strukturen und Sexualpädagogischen Konzepten in den Einrichtungen. Wichtig sind Beschwerdestrukturen einerseits und Handlungsleitlinien für Pädagogen andererseits. Die Schulung der Kinder alleine reicht nicht, aber Kinder, die sexuell aufgeklärt sind, sind seltener betroffen.

Ergänzende Information nach Fragen aus dem Publikum: Das Projekt BeSt dauert 4 Jahre, von 2015-2018. Jede Institution vereinbart ein individuelles Paket von Aktivitäten, die auf die Einrichtungen abgestimmt sind. Es ist ein Modellprojekt, unsere Absicht war, das Projekt in 80 Einrichtungen zu platzieren. Dann soll es weiter gehen in den Einrichtungen selbst. Es gab ein Vorgängermodell in der Kinder- und Jugendhilfe, und da zeigte sich schon der Bedarf für die Einrichtungen der Behindertenhilfe. Es sind nur 80 Einrichtungen, die teilnehmen, aber wir hatten teilweise Schwierigkeiten, Institutionen für die Teilnahme zu finden.

Ergänzung zu Beschwerdemanagement:
Die Grundlage ist, eine Risikoanalyse in der Einrichtung durchführen. Der Gedanke ist anfangs erschreckend, doch es macht Sinn, sich zu überlegen: Wenn ich Täter oder Täterin wäre, wie würde ich vorgehen? Wo in unserer Einrichtung sind ungeschützte Orte? Das machen auch die Täter und Täterinnen so. Es geht um eine Sensibilisierung für mögliche Übergriffe.
Es gibt gute Analysen zur Frage, in welchen Einrichtungen das Risiko größer ist. Das sind oft Einrichtungen, die sehr starke Hierarchien haben oder auch Einrichtungen, in denen die Grenzen verschwinden (Alter, Ebenen ...). Beides ist risikoreich: sowohl sehr starke Hierarchien als auch aufgelöste Hierarchien.
Dann muss eine Beschwerdesystem eingeführt werden: Gibt es eine externe Stelle, an die sich die Kinder, aber auch die Mitarbeitenden wenden können? Oder Interne Stellen, wie z.B. Briefkästen (Kummerkästen)? Dabei muss auf die unterschiedlichen Behinderungsarten Rücksicht genommen werden. Es sollte immer mehrere Wege geben.
Hierbei können die Kinder auch miteinbezogen und befragt werden: Wem würdest du denn etwas erzählen? Was brauchst Du, um dich anzuvertrauen? Die Einbeziehung der Kinder beim Aufbau von Beschwerdemanagement ist sehr wichtig, auch Kinder mit schweren Behinderungen können mitmachen. Und es muss zudem Kooperationspartner außerhalb geben, Ansprechpersonen von außerhalb, die niedrigschwellig verfügbar sind. Auch die Information dazu muss gut verfügbar sein.
Die Kinder werden am Anfang nicht gleich sagen: Ich habe sexualisierte Gewalt erlebt. Sie sagen z.B., sie mögen keinen Brokkoli! Dann schauen sie, wie wird mit dieser Beschwerde umgegangen wird, und so fassen sie eventuell nach und nach Vertrauen und trauen sich dann auch, schwerere Themen zu benennen.

Sexualisierte Gewalt macht betroffen. Doch der Umgang mit dem Thema verlangt „nur": Konzepte der Partizipation anwenden und dass wir sexualisierte Gewalt mitdenken. Es muss jetzt nicht jeder Experte oder Expertin werden. Aber Grundkenntnisse zu erwerben ist die Basis, um im pädagogischen Alltag nicht so verunsichert zu sein. Es findet häufig entweder eine Dramatisierung statt oder eine Bagatellisierung – beides ist problematisch. Wichtig ist ein sachlicher, aber ernstnehmender Umgang mit dem Thema, damit Betroffene „Landeplätze" finden können, an denen sie sich Hilfe holen können und diese auch bekommen. Ich würde mir wünschen, dass Wege gefunden werden, wie es uns miteinander gelingt, Mädchen und Jungen, aber auch erwachsene Menschen mit Behinderungen besser vor Sexualisierter Gewalt zu schützen.

 

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